Preisgekrönt stehen sie mitten im Mailänder Stadtzentrum. Insgesamt 116 und 84 Meter hoch, zwei Türme aus Metall und Glas – übersät von unzähligen Pflanzen. Fast tausend Bäume thronen auf den Balkons, bewässert durch lokales Grundwasser. Sie entstammen einer regionalen Baumschule. Die Rede ist vom Bosco Verticale, dem vertikalen Wald. Die von Stefano Boeri designten Hochhäuser gewannen Nachhaltigkeitspreise und zogen weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Das Architekturbüro plant für Lausanne, Utrecht und Eindhoven weitere Gebäude, die dort bald aus dem Boden spriessen sollen. Doch helfen solche Prunkbauten, Städte grüner und nachhaltiger zu gestalten? Mitnichten.
Der vorliegende Beitrag entstand 2023 im Rahmen der Sommerakademie «Urban Forests – for sustainable, livable and healthy cities» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autoren wieder und entspricht nicht zwingend derjenigen von Reatch oder der Schweizerischen Studienstiftung. Erstmals erschienen im Reatch-Blog.
Warum Stadtbäume wichtig sind
Zunächst ja, mehr Bäume sind per se nicht verkehrt. Sie erbringen eine Unmenge an Ökosystemleistungen und gerade in Städten werden sie wichtiger denn je. Es ziehen immer mehr Leute vom Land in den urbanen Raum; die Vereinten Nationen rechnen damit, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung im Jahr 2050 in Städten wohnen werden [1]. Heutzutage ist es bereits die Hälfte. Doch wo sich Menschen ausbreiten, weichen Wälder. Und so verschwinden zunehmend grüne Flächen aus dem urbanen Raum. Genau dort wären sie aber immens wichtig. Bäume sorgen für Kühlung, filtern Feinstaub und Schadstoffe aus der Luft, speichern CO2 und wirken lärmisolierend. Zudem bieten sie Lebensräume für Tiere, was dem Biodiversitätsverlust entgegenwirken kann, denn Städte sind für viele Waldbewohnerinnen unpassierbar. Darüber hinaus sind Bäume wichtig für die menschliche Gesundheit, was unter anderem von Wolf et al. (2020) [2] sowie Konijnendijk (2023) [3] belegt wurde. Letzterer postulierte die 3-30-300 Regel, die als zentraler Richtwert für Städteplaner gilt und weltweit Anwendung findet. Gemäss Konijnendijk sollte jede und jeder vom eigenen Heim aus 3 Bäume sehen können, Baumkronen respektive Vegetation sollten 30 Prozent der Umgebung bedecken und niemand sollte weiter als 300 Meter von der nächsten Grünfläche entfernt wohnen. Würden diese Richtwerte eingehalten, hätte das signifikant positive Effekte auf die psychische wie auch die physische Gesundheit der Stadtbewohner:innen.
Natur als Designelement
Der Bosco Verticale erscheint diesbezüglich nützlich zu sein. Immerhin hilft er beim Einhalten der 3-30-300 Regel; das Stadtbild wird aufgegrünt und mehr Bäume säumen den Horizont. Das Problem hierbei ist die Langlebigkeit der Bäume. Um ein Höchstmass an Ökosystemleistungen zu erbringen, müssen Bäume alt werden. Je mehr Jahresringe, desto mehr Kronenfläche, desto grösser ist die Beschattung. Aber um alt zu werden, brauchen Bäume nebst Nährstoffen vor allem Wurzelraum. Dieser entspricht in etwa dem gleichen Volumen des oberirdischen Teils. Das gesamte Volumen der Krone müsste demnach auch unterirdisch vorhanden sein – ist es in der Regel aber nicht. Die Städte sind unterirdisch so kompakt verbaut wie oberirdisch. Ergo können Stadtbäume nie so stark wachsen, wie sie eigentlich könnten und sollten. Dieses Platzproblem ist bei den vorgefertigten Containern des Bosco Verticale noch akuter. Für Stadtbäume besteht eine Unmenge weiterer Risiken. Angefangen vom Sonnenbrandrisiko aufgrund fehlender Vegetation [4], über Nährstoffmangel wegen Versiegelung und dem Abtransportieren des Laubs [5], bis hin zu verätzten Wurzeln aufgrund von Hundeurin und Streusalz [6]. Die Bäume der Boschi Verticali sind immerhin vom Hundeurin gefeit. Aufgrund des fehlenden Wurzelraums müssen sie sich aber nach spätestens zwanzig Jahren eine neue Bleibe suchen. Das ist weder langfristig gedacht noch nachhaltig. Mit dem genutzten Grundwasser sowie der intensiven Pflege werden zudem Ressourcen investiert, die ökologisch sinnhafter verwendet werden könnten. Die Bäume gehören nicht zu einer nachhaltigen Strategie – sie dienen als Designelement. Selbstverständlich darf Natur «nur» schön sein. Schnittblumen sind ein Paradebeispiel dafür. Und auch anderes Stadtgrün glänzt nicht zwingend mit Nachhaltigkeit. Kirschlorbeer, oft als Hecke genutzt, ist ein invasiver Neophyt und zudem giftig. Der fein getrimmte Rasen ist ökologisch betrachtet eine Wüste. Natürlich kann man an dieser Stelle den ästhetischen Wert als ausreichende Leistung betrachten und das Thema abschliessen. Die Probleme der Zukunft werden so jedoch nicht gelöst.
Verbesserungsvorschläge
Es gibt diverse Vorschläge, wie man urbane Wälder nachhaltiger gestalten könnte. Die Umsetzung ist indes nicht immer einfach. Zürich orientiert sich beispielsweise an der 3-30-300 Regel, hat sich aber aufgrund der Machbarkeit auf 25 statt 30 Prozent Baumbestand verständigt. Dies geschah bei einem Startwert von 16 Prozent, inzwischen ist der Wert auf 15 Prozent gesunken. Der Bestand muss also in naher Zukunft bei Erhaltung aller existierender Bäume beinahe verdoppelt werden. Mit der Annahme der Gegenvorschläge zur Zürcher Initiative «Stadtgrün» liegen finanzielle Mittel bereit, um dieses Ziel zu erreichen. Doch wo die ganzen zusätzlichen Bäume gepflanzt und erhalten werden sollen, scheint fraglich.
Es gibt zahlreiche weitere Projekte unterschiedlicher Grössenordnung. In Dietikon wird beispielsweise eine Genossenschaftsinitiative realisiert. Mögliche Massnahmen umfassen hierbei die Förderung von einheimischen Bäumen und Sträuchern in den Gärten sowie die Aufwertung von Baumstreifen, Magerwiesen oder Fassaden. In Basel werden im Matthäus und St. Johanns Quartier Superblocks getestet. Bei Superblocks wird Kraftverkehr am Passieren durch Wohnquartiere gehindert und zurück auf Hauptstrassen geleitet. So entsteht mehr Platz auf den Strassen des Wohnquartiers, wodurch mitunter die Begrünung gefördert wird. Ein weiteres Beispiel ist der Parco Nord am Stadtrand von Mailand. Auf den ersten Blick scheint dieser Park nicht sonderlich spektakulär. Es ist die zugrundeliegende Geschichte, die beeindruckt: Die gesamte Parkfläche war ehemals Industriegebiet und wurde komplett renaturiert. Noch drastischer ging Südkorea vor. Dort setzt man auf Hochhäuser und starke Begrünung. So sind rund 60 Prozent des Landes (wieder) mit Wald bedeckt [7], also ungefähr doppelt so viel wie in der Schweiz [8], und dies bei einer wesentlich höheren Bevölkerungsdichte.
Die genannten Projekte kommen allesamt der breiten Öffentlichkeit zugute. Der Bosco Verticale hingegen liegt im finanzstarken Zentrum der Stadt und ist somit den Wohlhabendsten vorbehalten: Die Wohnungen wurden zu Millionenbeträgen verkauft. Man darf Stefano Boeris Architekturbüro dennoch zugutehalten, dass die neuen Projekte billiger und nachhaltiger gestaltet werden. Ausserdem leisten sie im Vergleich zu anderen modernen Bauten immerhin einen ökologischen Beitrag in Form von Trittsteinbiotopen. Dadurch erhalten Tiere im städtischen Umfeld kleine Inseln, um von einem Biotop ins nächste wechseln zu können. Zudem wird auf die Notwendigkeit zusätzlicher Stadtbegrünung hingewiesen. Nichtsdestotrotz darf man sich vom Glanz der beiden Türme nicht blenden lassen; die Zukunft von urbanen Wäldern findet auf dem Boden statt und muss nachhaltig gestaltet werden.
Um den tatsächlichen Wert von Bäumen zu erkennen, muss man sich über deren Mehrwert bewusst werden. Bei Bauprojekten werden Bäume oft stark unter Wert verkauft. Zukünftig entgangenen Ökosystemleistungen werden daher in der Planung oft ungenügend Rechnung getragen. Dies führt dazu, dass Bäume tendenziell schnell gefällt werden. Es ist fraglich, inwiefern die Leistungen, die Bäume vollbringen, überhaupt monetarisiert werden können. Zum Beispiel werden kühlende Schatten, die zudem die Luft filtern und CO2 speichern, künftig von unschätzbarem Wert sein.
Vor lauter Glanz die Bäume nicht sehen
Das Problem der Stadtbäume muss wortwörtlich an der Wurzel gepackt werden. Denn eben diese haben im städtischen Raum zu wenig Platz. Entsprechend können die Bäume nicht richtig gedeihen. Warum mehr Wurzelraum und mehr Bäume in Städten benötigt werden, wird in Zukunft immer ersichtlicher sein. Bäume dienen als kühlende Schattenspender, Lärm- und Schadstofffilter, Kohlenstoffsenken und Sauerstoffproduzenten. Sie bieten Lebensraum für Tiere und helfen der physischen und psychischen Gesundheit der menschlichen Stadtbewohner:innen. Mehr Bäume sind per se nicht schlecht, sie müssen aber auch nachhaltig und langlebig geplant werden. Nebst der Unzulänglichkeit für alle sozialen Schichten, ist die Nachhaltigkeit des Bosco Verticale das Hauptproblem. Die Bäume sind in ihren Wurzelcontainern eingesperrt und können nicht alt werden. Zudem ist ihr Erhalt ressourcenintensiv. Statt solcher Luxusprojekte sollten lokale, bodenständige und bodenstämmige Initiativen verfolgt werden.
Autor
Jan Lazarevski, Geförderter der Schweizerischen Studienstiftung
Danksagung
Dieser Text entstand im Rahmen der Sommerakademie «Urban Forests – for sustainable, liveable and healthy cities – Werner Siemens Programm» der Schweizerischen Studienstiftung. Zunächst möchte ich mich bei der Leitung der Akademie, Jerylee Wilkes-Allemann und Andrea Finger Stich, bedanken. Insbesondere Jerylee gilt mein Dank für anschliessende Inputs sowie für das fachliche Gegenlesen. Sophie Gschwend gebührt der Dank für die mir überlassenen Bildrechte. Weiterhin möchte ich mich bei Claudia Glauser von Birdlife für das Erläutern der Hintergründe der Genossenschaftsinitiative Dietikon bedanken. Zum Schluss möchte ich meinen ausdrücklichen Dank Lucia Letsch aussprechen. Ohne ihre Beratung, Ratschläge und Begleitung durch Reatch wäre dieser Text nie entstanden.