Velofahren boomt – dank Covid-Pandemie und zunehmendem Umweltbewusstsein. Die Velostadt erscheint als zukunftsweisendes Mobilitätskonzept in der Raumplanung. Doch ist diese Idee wirklich neu? Ein Blick zurück in die Vergangenheit zeigt, dass Velostädte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher die Regel als die Ausnahme waren.
Der vorliegende Beitrag entstand 2024 im Rahmen der Sommerakademie «Mobilität der Zukunft – e-bike City» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autoren wieder und entspricht nicht zwingend derjenigen von Reatch oder der Schweizerischen Studienstiftung. Erstmals erschienen im Reatch-Blog.
Am Anfang war das Klima
Nicht nur heute gilt das Velo als Hoffnungsträger in der Klimakrise, auch seine Erfindung war dazumal eine Antwort auf eine Klimakatastrophe. Nach dem verheerenden Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora ging das Jahr 1816 als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte ein. In Europa blieben die Ernten aus, der Hafer wurde knapp, und Pferde starben massenhaft. Inmitten dieser Krise stellte Karl von Drais 1817 in Mannheim seinen «Drahtesel» vor: eine Laufmaschine, die als Vorläufer des heutigen Fahrrads gilt und die als alternatives Fortbewegungsmittel zu den verstorbenen Pferden dienen sollte. In England nannte man diese Zweiräder «Hobby Horse» oder «Dandy Horse», was nicht nur auf ihre Rolle als Pferdersatz verweist, sondern auch auf ihren Status als Luxusspielzeug für Adlige und wohlhabende Bürger:innen – der stolze Preis entsprach beinahe der Jahresmiete einer Dreizimmerwohnung. Besonders beliebt bei den jungen Dandys waren später die Hochräder mit ihren gigantischen Vorderrädern, auf denen sie ihre Abenteuerlust demonstrieren konnten. Elegant, aber technisch begrenzt, blieb dieses Modell eine Sackgasse. Der Weg für das alltagstaugliche Fahrrad sollte erst später geebnet werden.[1]
Demokratisierung des Velos
In den 1890er-Jahren kamen die ersten modernen Velos mit Pedalantrieb und Luftreifen auf den Markt, und mit ihrer Popularisierung setzte eine kleine Revolution ein. In der Schweiz wurde das Velo aus heimischen Fabriken wie Condor und Villiger mit einem Preis ab 82 Franken für breite Gesellschaftsschichten erschwinglich – zum ersten Mal in der Geschichte war die Masse mobil. Mit dem neuen «Volksgaul» waren keine teuren Pferde, Kutschen oder Zugtickets mehr notwendig, um von A nach B zu kommen. Die Arbeiterschaft radelte von den Aussenquartieren der Stadt zu den Fabriken und der Fahrtwind kündete ihnen die sich beschleunigende Moderne an. Insbesondere Frauen fanden im Sattel ein völlig neues Freiheitsgefühl. Die ersten Damenmodelle avancierten als Symbole der Emanzipation zu einem Verkaufsschlager und mit ihnen verschwanden die viktorianischen Röcke und Korsagen zugunsten skandalöser Pluderhosen – ein modischer Tabubruch mit gesellschaftlicher Signalwirkung. Das Velo war somit nicht bloss ein Fortbewegungsmittel, sondern ein Vehikel mit ordentlicher politischer Sprengkraft, das neue Lebensentwürfe auf die Strasse brachte.[2]
Velostädte der ersten Stunde
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Velo zum Verkehrsmittel Nummer eins und dominierte das Strassenbild. Während um 1900 in den grösseren Schweizer Städten rund 50’000 Velos gezählt wurden, vervielfachte sich ihre Zahl bis 1936 auf mehrere Hunderttausend, sodass bereits jede vierte Person auf dem eigenen Sattel unterwegs war. In Basel erreichte das Velo einen beeindruckenden Anteil von 70 Prozent am Gesamtverkehr; heute liegt dieser Wert meist unter 10 Prozent. Historische Fotografien bestätigen dieses Bild auch für andere Städte: von der endlosen Velokarawane auf der Kornhausbrücke in Bern bis zum grossen Veloparkplatz in der Bahnhofshalle in Zürich.[3]

Abbildungen 1 und 2: Ein alltäglicher Anblick: Bis in die 1940er-Jahre war das Velo das wichtigste Verkehrsmittel in Bern.

Die Städte von damals waren zweifellos Velostädte – allerdings ohne die heute übliche Veloinfrastruktur. Das Velo war ein derart selbstverständlicher und unangefochtener Bestandteil des Strassenverkehrs, dass getrennte Radwege als unnötig erachtet wurden. Die anderen Verkehrsmittel müssten sich schlicht nach den Zweirädern richten, hiess es aus der Politik. Nur auf Überlandstrassen, wo die Velos deutlich in der Minderheit waren, begann man in der Zwischenkriegszeit, Radstreifen einzuführen, wie erstmals im Raum Basel 1929. Die fehlende Absicherung des Velos im städtischen Verkehrsraum – etwa durch eigene Spuren oder rechtliche Regelungen – erweist sich aus heutiger Sicht als verpasste Chance der Stadt- und Verkehrsplanung und führte dazu, dass es in der Nachkriegszeit von der Strasse verdrängt wurde.[4]

Abbildungen 3 und 4: Der Velobahnhof in der Haupthalle des Zürcher Hauptbahnhofs – ein gewohntes Bild in den 1940er-Jahren.

Autowahn statt Velotraum
Der Aufstieg des Automobils beendete in der Nachkriegszeit vorerst den Velorausch des frühen 20. Jahrhunderts. Wie einst das Velo war auch das Auto zunächst ein luxuriöses Gefährt der Oberschicht; schliesslich gehörte es seit jeher zu ihren Privilegien, sich ohne Muskelanstrengung fortzubewegen. Noch 1945 rollten in Zürich pro 100’000 Einwohner:innen gerade einmal sechs Motorwagen über die Strassen, doch fünf Jahre später hatte sich die Menge bereits versechsfacht. Mit dem Wirtschaftswunder parkte das Auto bald auch in den Garagen der Mittel- und Arbeiterschicht. Alle hatten nur noch Augen für das Automobil – selbst die Veloindustrie passte sich an und brachte das Klappvelo auf den Markt, das sich bequem im Kofferraum verstauen liess. Diese Entwicklung steht auch symbolisch für den Bedeutungsverlust des Velos, das vom Alltagsmobil zum reinen Sport- und Spielgerät für Kinder und Freizeitenthusiasten degradiert wurde.[5]
Das Auto stieg in den 1950er-Jahren zum unangefochtenen Massstab der Stadtplanung auf. Während in Europa viele vom Krieg zerstörten Metropolen den Wiederaufbau nutzten, um breite Strassen und Autobahnen mitten durchs Zentrum zu ziehen, schlossen sich auch die verschont gebliebenen Schweizer Städte diesem Trend an: Zürich präsentierte 1954/55 einen neuen Generalverkehrsplan, der die drei ins Zentrum mündenden Autobahnen in einem sogenannten «Expressstrassen-Y» verbinden sollte. Vielerorts wurden die wenigen Radwege aus der Zwischenkriegszeit kurzerhand in zusätzliche Autospuren und Parkplätze umgewandelt.[6]
Das Velo wurde vom Auto jedoch nicht nur von der Strasse verdrängt, sondern auch aus dem kollektiven Gedächtnis. Seine Geschichte ist bis heute nur bruchstückhaft aufgearbeitet und bleibt meist auf technik- und sportgeschichtliche Perspektiven beschränkt.[7] Der Siegeszug des Automobils wird dabei häufig als eine zwangsläufige, lineare Entwicklung dargestellt, bei der das Velo lediglich die Rolle des Wegbereiters des Individualverkehrs spielt, bis es schliesslich von grösseren und schnelleren Maschinen überholt wird.[8] Dabei wird übersehen, dass technologische Entwicklungen nie neutral, sondern stets politisch und sozial umkämpft sind und gesellschaftliche Machtverhältnisse und kulturelle Werte widerspiegeln.[9] Die Autoeuphorie der 1950er-Jahre war somit keine Frage des Fortschritts oder Zeitgeistes, sondern das Ergebnis intensiven Lobbyings einflussreicher Automobilverbände. Besonders ironisch zeigt sich der Seitenwechsel beim Touring-Club Schweiz (TCS): 1896 ursprünglich als Interessensverband für Radfahrer:innen gegründet, fusionierte er 1944 mit dem Automobilclub Schweiz (ACS) zum Dachverband Schweizerischer Strassenverkehrsverband (SSV) und liess die Anliegen der Velofahrer:innen kurzerhand fallen. Ohne politischen Fürsprecher geriet das Velo in der Schweiz ins Abseits der Stadtplanung.[10]
Ölkrise und Rückkehr des Velos
Kopenhagen und Amsterdam sind heute die unangefochtenen Spitzenreiter unter den Velostädten, doch auch sie waren nicht immer velofreundlich. In den 1950er- und 60er-Jahren wurden auch sie zu autogerechten Städten ausgebaut. Erst der Ölpreisschock 1973 brachte eine Wende und machte deutlich, dass die grenzenlos erscheinende Mobilität der Nachkriegszeit nicht uneingeschränkt möglich war. Plötzlich rückte das Velo als kostengünstige und umweltfreundliche Alternative wieder ins Zentrum. In den Niederlanden und in Dänemark erleichterten die kulturelle Verankerung des Velos und das Fehlen einer starken Autolobby den Wandel, aber es brauchte auch mutige Aktivist:innen, die nachts Radwege auf den Asphalt malten, um politischen Druck zu erzeugen. Beide Städte sattelten zeitnah wieder auf das Velo um.[11] Anders in der Schweiz: Trotz neuer Interessengruppen wie dem 1979 gegründeten Verkehrs-Club Schweiz (VCS), die sich für den Langsamverkehr als ökologische Alternative zum herkömmlichen Verkehr einsetzten, blieb das Velo in der Schweiz primär ein Freizeitgerät.[12]
Dass es nie zu spät ist, eine Verkehrswende einzuleiten, hat in den letzten Jahren Paris eindrucksvoll bewiesen. Zwischen 2015 und 2020 verwandelte sich die französische Hauptstadt unter der sozialistischen Bürgermeisterin Anne Hidalgo von einer Velohölle in ein aufstrebendes Veloparadies an der Seine. Die Länge der Radwege wurde verdoppelt, Autoparkplätze im grossen Stil abgeschafft und flächendeckend Tempo-30-Zonen eingeführt – mit beeindruckendem Erfolg: Der Veloverkehr stieg um 60 Prozent.[13]
Zürich auf dem Weg zur Velohauptstadt?
Könnte Zürich bald zur nächsten grossen Velostadt werden? Aktuell gehört die Limmatstadt zwar noch zu den velounfreundlichsten Städten der Schweiz und liegt deutlich hinter Basel, Bern, Lausanne und Genf – doch es tut sich etwas.[14] In der Schweiz ist die Veloförderung seit 2018 Verfassungsauftrag, und auch die Stadt Zürich hat sich dieses Ziel nun auf die politische Agenda gesetzt. Mit der 2021 vorgestellten «Velostrategie 2030» plant die Stadt, die Verkehrssicherheit zu verbessern und Velovorzugsrouten gezielt auszubauen.[15] Ironischerweise lässt sich für den Ausbau zur Velostadt das Erbe der Autobahnträume nutzen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende der Velo-Ära eingeläutet haben. Ein Beispiel dafür ist der Stadttunnel, der am 22. Mai 2025 eingeweiht wird. In den 1950er- und 1960er-Jahren ursprünglich als Teil des «Expresstrassen-Y»-Projekts geplant, blieb der Tunnel jahrzehntelang ein Rohbau. Erst 2011 ergriff Pro Velo die Initiative, ihn als sichere Veloverbindung zwischen den Stadtkreisen 4 und 5 auszubauen – inklusive Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und einer Velostation mit 1’100 kostenlosen Abstellplätzen.[16] Abseits dieser einzelnen Leuchtturmprojekte bleibt auf dem Weg zur Velostadt noch Einiges zu tun.
Eine grosse Vision für die Umgestaltung der Stadt Zürich liefert das ETH-Projekt «E-Bike City», das untersucht, wie eine urbane Zukunft aussehen könnte, die dem Velo oberste Priorität einräumt. Derzeit entfallen 88 Prozent der Strassenfläche auf Autos, während Velos und Fussgänger:innen mit bescheidenen 11 Prozent auskommen müssen. Da die historisch gewachsenen Strassen der Stadt nicht verbreitert werden können, sollen 37 Prozent der für Autos reservierten Fläche für Fussgänger:innen, Velos, E-Bikes und Grünflächen umgenutzt werden, indem die Stadt für den Autoverkehr in ein einspuriges Netz von Einbahnstrassen verwandelt wird. Dadurch bliebe zwar jedes Gebäude weiterhin auch für den motorisierten Verkehr erreichbar, aber Autofahren würde durch die Umwege deutlich unattraktiver werden – ein wichtiger und notwendiger Schritt, um die Klimaziele zu erreichen.[17] Wie die Strassen und einzelne Verkehrsknotenpunkte aussehen könnten, lässt sich auf einer interaktiven Karte erkunden.[18] Die Stadt Zürich begrüsst den Vorschlag der ETH, verfolgt mit der «Velostrategie 2030» jedoch auch eigene Pläne.[19]
Das Velo als Wegweiser ins postfossile Zeitalter
Vielleicht bewahrheitet sich für Velostädte das geflügelte Wort: «History doesn’t repeat itself, but it does rhyme.» Die Verkehrswende erfordert weit mehr als den blossen Umstieg auf Elektroautos, sondern eine Abkehr vom autozentrierten Denken. Jahrzehntelang galt technologischer Fortschritt als Allheilmittel – breitere Strassen, schnellere Autos und eine effiziente Verkehrssteuerung. Doch statt fliessendem Verkehr brachte diese Logik vor allem eines: Verstopfte Strassen, überfüllte Parkplätze und eine Verkehrsplanung, die sich an Maschinen statt an Menschen orientiert. Die nach wie vor verbreitete Vorstellung, dass mehr Strassen die Verkehrsprobleme lösen, hat sich als Irrweg erwiesen. Nun gilt es, die Narrative in den Köpfen zu verändern, denn Mobilität ist nicht nur eine Frage technologischer Innovation, sondern vor allem eine Frage politischer Weichenstellungen und gesellschaftlicher Werte.
Wie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht das Velo auch heute wieder im Zentrum eines Kulturkampfs: Damals als Symbol der Emanzipation und der Beschleunigung der Moderne, heute als Sinnbild für eine postfossile Lebensweise, Entschleunigung und materielle Reduktion. Doch die Wiederentdeckung des Velos ist weit mehr als eine ökologische Notwendigkeit – sie ist eine pragmatische Antwort auf die Herausforderungen urbaner Mobilität. Für kurze Strecken in der Stadt ist das Fahrrad unschlagbar schnell, verbessert die Erreichbarkeit und fördert ganz nebenbei die Gesundheit der Bevölkerung. Zudem schafft es als platzsparendes Verkehrsmittel wertvollen Raum für Fussgängerzonen, Grünflächen und lebendige Stadtviertel. Vielleicht liegt die Zukunft der Mobilität weniger in futuristischen High-Tech-Visionen als in der Rückbesinnung auf die radikale Einfachheit von zwei Rädern und die Kraft der Muskeln.
Autorin
Sarah Evison studiert im Master Geschichte und Philosophie an der Universität Basel und setzt sich dabei intensiv mit Umwelt-, Klima- und Infrastrukturgeschichte auseinander. Sie ist Stipendiatin der Schweizerischen Studienstiftung und seit Oktober 2024 Fellow im Scimpact-Programm von Reatch.
Abbildungsverzeichnis
Titelbild: Nydegger, Walter: Radfahrer vor dem Historischen Museum, Bern 1945, Fotografie, 6 x 6 cm, Staatsarchiv des Kantons Bern, FN Jost Fotonachlass Carl Jost, Signatur: Nydegger 285, online: https://www.query.sta.be.ch/detail.aspx?ID=491993, Stand: 03.02.2025.
Abbildung 1: Nydegger, Walter: Das Velo im Strassenverkehr, Bern 1946, Fotografie, 6 x 6 cm, Staatsarchiv des Kantons Bern, FN Nydegger 513, online: https://www.query.sta.be.ch/de…, Stand: 03.02.2025.
Abbildung 2: Nydegger, Walter: Das Velo im Strassenverkehr, Bern 1946, Fotografie, 6 x 6 cm, Staatsarchiv des Kantons Bern, FN Nydegger 513, online: https://www.query.sta.be.ch/detail.aspx?ID=494107, Stand: 03.02.2025.
Abbildung 3: Unbekannt: Veloaufbewahrung Bahnhof Zürich, Zürich Juli 1942, Fotografie, 4 x 4 cm, SBB Historic, Veloverkehr Bahnhof Zürich, M_0648_06, online: https://www.sbbarchiv.ch/detai…, Stand: 03.02.2025.
Abbildung 4: Unbekannt: Veloaufbewahrung Bahnhof Zürich, Zürich Juli 1942, Fotografie, 4 x 4 cm, SBB Historic, Veloverkehr Bahnhof Zürich, M_0650_03, online: https://www.sbbarchiv.ch/detai…, Stand: 03.02.2025.
Bibliographie