«Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen – sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden.»
Ingeborg Bachmann, Das Buch Franza
Früher waren Dichtung und Wissenschaft nicht so stark getrennt wie heutzutage. Die Beispiele sind unzählig. Goethe forschte zur Farbenlehre, organischem und anorganischem Material und liess seine Erkenntnisse in seine Schriften, Dramen und Romane einfliessen. Georg Büchner forschte auf akademischer Ebene über Nerven bei Mensch und Tier und vermittelte im Drama Woyzeck und der Erzählung Lenz zugleich sprachmächtig das Spannungsfeld zwischen dem Druck der Gesellschaft und dem Individuum bzw. die Zerrüttung der Nerven, die diese Spannung hervorbringen kann. Friedrich Nietzsche forderte eine «fröhliche Wissenschaft», die sich nicht davor scheut, Objektivität zugunsten eines differenzierten Umgangs mit unterschiedlichen Perspektivierungen aufzugeben. Ingeborg Bachmann unterlegte ihren späteren Romanprojekten einen dezidiert epistemologischen Ansatz und ging so weit zu behaupten: «am Leben [ist] im Höchstfall verständlich, was uns verständlich gemacht wurde durch Literatur, […] und mehr wissen wir nicht.» Auch heute gibt es wieder vereinzelte Versuche, Wissenschaft und Dichtung zusammenzudenken: Raoul Schrotts Erste Erde Epos möchte das Wissen, das sich der Mensch zur Entstehung des Universums und der Erde angeeignet hat, durch Dichtung vermitteln und fassbar machen. Aber auch die Unterhaltungsliteratur sticht hier ins Auge: Die traditionsreiche Science-Fiction-Literatur bringt Wissenschaft und Literatur auf ganz eigene Weise zusammen. Das gleiche gilt natürlich für den Film. So visualisieren etwa Christopher Nolans Blockbuster Inception und Interstellar ausgeklügelte wissenschaftliche Theorien.
Die Lektüregruppe will in vier bis fünf thematischen Sitzungen fragen, welchen Blick die ,schöne Literatur‘ auf die Wissenschaften und ihre Erkenntnisformen wirft, wie sie sich Muster und Strukturen derselben aneignet, welches Verständnis von Erkenntnis sie entwickelt, und was daran produktiv oder problematisch sein könnte.
Organisation: Noah Schmitz
Mögliche Texte zur Lektüre (Auswahl):
– Georg Büchner: Lenz. In: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. 14 Aufl. Hg. v. Karl Pörnacher u. a. dtv, München, 2013.
– Mary Shelley: Frankenstein, Or, the Modern Prometheus. London: The Folio Society, 2015 (Auszüge).
– Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. In: Studienausgabe Band X, Bildende Kunst und Literatur, Neunte Auflage, Hg. Alexander Mitscherlich u. a., Fischer, 1989.
– Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie. Fischer, Frankfurt a. M., 1988.
– Ingeborg Bachmann: Todesarten-Projekt. Piper, München, 1995 (Auszüge).
– Frank Schätzing: Der Schwarm. Fischer, Frankfurt a. M., 2004 (Auszüge).
– Raoul Schrott: Erste Erde. Epos. Verlag Carl Hanser, München 2016 (Auszüge).
Mögliche Filme:
– Christopher Nolan: Interstellar. USA/UK 2014.
– Alex Garland: Ex Machina. UK 2015.
Arbeitssprache: Deutsch
Möglicher Veranstaltungsort: Deutsches Seminar, Universität Zürich
Zeitraum: März bis Juni 2019
Anzahl und Dauer der Veranstaltungen: ca. 4–5 Sitzungen à ca. 90 Minuten.
Teilnehmer: Alle Fachrichtungen; max. 10 Teilnehmer