Mein jüngster Bruder hielt kürzlich zwei Magnetscheiben hoch und fragte mich: «Als Physikstudent kannst Du mir sicher verständlich und einfach erklären, warum sich diese zwei Scheiben abstossen?» Ich sah mich bereits die Eleganz der Maxwellgleichungen erklären, doch dann fiel mir seine überzeugte Abneigung gegen Mathe ein. Nach einer solchen Erklärung hatte er ohnehin nicht gefragt. Schliesslich enttäuschte ich ihn mit der Antwort: «Nein, ich kann Dir das nicht erklären. Ich verstehe es auch nicht. Es gibt keine anschauliche Erklärung für dieses Phänomen.»
Die naturwissenschaftliche Revolution der frühen Neuzeit stellt den Beginn der modernen Physik dar. Zu dieser Zeit herrschte eine klare Vorstellung über die korrekte und wahre Erklärung der Natur, die mechanistische Philosophie. Diese altehrwürdige Doktrin besagt, dass die Welt wie ein riesiges Uhrwerk operiert, bestehend aus ziehenden und stossenden mechanischen Komponenten wie Teilchen, Bänder oder Räder. Erst wenn man einen Mechanismus bestehend aus solchen Komponenten konstruieren kann, der die externe Welt imitiert, gelangt man zu einem Verständnis der Natur. Falls man keine solche künstliche Maschine nachbauen kann, versteht man die Natur nicht.
Dies waren das konkrete Kriterium und der Anspruch an das Naturverständnis. Doch Newtons Gravitationstheorie entfloh dieser intuitiven, mechanistischen Philosophie. Die Theorie suggerierte, dass Materie ohne materiellen Kontakt andere Materie beeinflussen kann. Newton und seine Kritiker, welche auf Erklärungen durch mechanistische Prinzipien festhielten, hielten dies für unmöglich. Newton nannte diese «unverständlichen» Eigenschaften seiner Gravitationstheorie «solch grosse Absurditäten, auf welche niemand hineinfallen kann» [1] und er suchte vergeblich nach Alternativen. Mit der Zeit wurden diese Absurditäten in die Wissenschaft absorbiert und akzeptiert und schafften Platz für weitere unverständliche Absurditäten wie eine vierdimensionale Raumzeit oder Quantenverschränkung.
Die Natur ist unverständlich, aber das ist egal
Von heute aus betrachtet, änderte Newton den Anspruch der Verständlichkeit der Natur. Eigenschaften der Natur können unverständlich für uns sein, dennoch müssen wir eingestehen, dass sie korrekt sind. Die Wissenschaft sucht nicht mehr nach visualisierbaren, intuitiv fassbaren Erklärungen der Natur wie es sich Galileo oder Descartes erhofften. Wir können Theorien über unsere Welt konstruieren und versuchen, diese Theorien zu verstehen. Das ist jedoch ein anderer und tieferer Anspruch als die Welt durch intuitiv fassbare Konzepte zu verstehen und zu fassen. Diese anfänglichen Ziele der wissenschaftlichen Revolution hat die Physik nach Newton – zumindest rückblickend – aufgegeben.
Die von der (modernen) Physik beschriebene Welt ist nicht mehr zugänglich durch die vom Alltagsdenken geleitete Intuition. Die Physik konstruiert Theorien, welche abstrakte mathematische Objekte mit abstrakten Eigenschaften postulieren. Die Aufgabe der Physik ist reduziert worden auf das Bestimmen von Variablen in Funktionsgleichungen, auf das Ordnen von abstrakten Phänomenen in Form mathematischer Strukturen und Zusammenhänge. Diese mathematischen Konstrukte haben keine Bedeutung ausserhalb der physikalischen Theorien, in denen sie definiert sind. Diese Strukturen lassen sich nur schwer oder kaum in die Worte der Alltagssprache übersetzen, da die Alltagssprache weniger präzise und weniger abstrakt als die mathematische Sprache ist.
Das Meta des Meterlesens
Was kann dieses Bild der Physik über die «reale Welt» aussagen? Existieren hypothetisch postulierte abstrakte mathematische Entitäten auch wirklich draussen in der «realen Welt»? Für die Physik sind solche Fragen unwichtig und gar nicht zu beantworten. Die mathematischen Entitäten der Physik und wohl auch die Konzepte der Wissenschaft im Allgemeinen sind letztlich mentale Kategorien, mit denen wir die Welt erfassen wollen. Sie existieren (was auch immer das heisst) nicht draussen in der Welt, sondern vielmehr im kollektiven Gedächtnis der Menschheit.
Das Fehlen eines klaren Bildes einer «physikalischen Realität» hält Physikerinnen jedoch nicht vom Versuch ab, gewisse abstrakte Relationen mit Ereignissen und Sinneseindrücken, mit denen sie konfrontiert werden, zu korrelieren. Konkret heisst das: Mittels einem mitunter sehr komplizierten Meterbands können wir Änderungen zwischen Ereignissen oder Sinneseindrücken quantifizieren. Diese quantifizierten Änderungen werden mit mathematischen Relationen innerhalb einer Theorie abgeglichen. Falls sich beide Zahlenwerte gleichen, gewinnt man Vertrauen in die Theorie. Dies legitimiert aber nach wie vor nicht, die abstrakten mathematischen Objekte, welche in den Formeln auftauchen, in die «reale Welt» einzuführen. Ebenfalls ist es streng genommen sinnlos zu behaupten, dass die abstrakte Theorie diese und jene Ereignisse in der Welt vorhersagt, denn unsere Sinnesereignisse sind nicht Teil der abstrakten Theorie. Bestenfalls können wir gewisse abstrakte, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Änderungen von Ereignissen und den von uns entwickelten abstrakten Relationen feststellen. Die Physik schweigt jedoch über den intrinsischen Charakter der Ereignisse oder Sinneseindrücke.
Ich wollte meinen Bruder nicht durch die Mathematisierung unserer Naturbeschreibung einschüchtern. Er hat sich nämlich sowieso bereits an eine der elementarsten Abstraktionen gewöhnt: Nämlich an Zahlen. Ich stellte ihm dann die scheinbar einfache Frage: «Warum erhalte ich wenn ich zu einem Stein drei Steine hinzufüge stets vier Steine? Und warum erhalte ich wenn ich zu drei Birnen zwei Birnen hinzufüge stets fünf Birnen? Ist die Addition von Zahlen eine Eigenschaft des Universums oder ein vom menschlichen Geist erschaffenes abstraktes Konzept?» Letzten Endes ist dieser Umstand ebenso unerklärbar wie der Umstand, dass die abstrakten Maxwellgleichungen das Abstossen von Metallscheiben beschreiben. Es gibt in der Natur unerklärbare und unverständliche Dinge. Doch wir können uns an diese gewöhnen.
Matthias Gröbner ist Masterstudent in Physik an der ETH Zürich, Geförderter der Schweizerischen Studienstiftung und MItglied von reatch, wo er das interaktive Format “reatching into the rabbit hole” organisiert.
Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Wahrscheinlichkeiten, Determinismus und freier Wille in Naturwissenschaften und Philosophie» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von der wissenschaftlichen Ideenschmiede reatch – research and technology in switzerland. Der Artikel gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder und entspricht nicht zwingend derjenigen der Schweizerischen Studienstiftung.
Quellen
[1] Newton, Letter to Richard Bentley, Source: 189.R.4.47, ff. 7-8, Trinity College Library, Cambridge (http://www.newtonproject.ox.ac.uk/view/texts/normalized/THEM00258)